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Text vom 27. Februar 2014
Beachten Sie bitte den vorletzten, blau gerahmten Textabschnitt.
Quellenangabe:
GEORG MARKUS
Was uns geblieben ist
DAS ÖSTERREICHISCHE FAMILIENBUCH
2010 by Amalthea Signum Verlag GmbH, Wien ISBN 978-3-85002-723-6
5. Kapitel
Hier entnommen aus folgender Internetadresse:
http://www.buchliebling.com/downloads/buchliebling-2011/Leseproben/Leseprobe-J01-Was-uns-geblieben.pdf
ZWEI PORTIONEN TAFELSPITZ Die Stürgkhs und die Adlers
Zwei österreichische Familien, wie sie unterschiedlicher nicht
sein könnten.
Die Stürgkhs wurden als kaisertreue Aristokraten 1638 in den
Freiherren- und 1715 in den Grafenstand erhoben und trugen im
18. Jahrhundert dazu bei, die Thronansprüche des Hauses Habsburg
zu sichern.
Die Adlers sind sozialistischer Uradel, deren prominentestem
Mitglied Victor Adler es gelang, die zersplitterte österreichische
Arbeiterbewegung zu einen und 1889 die sozialdemokratische Partei
zu gründen.
Seit dem 21. Oktober 1916 sind die Namen der beiden Familien
schicksalhaft miteinander verbunden. Der österreichisch-ungarische
Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh betritt an diesem Samstag
– wie fast jeden Tag zu Mittag – den im ersten Stock gelegenen
Speisesaal des noblen Hotels Meißl und Schadn auf dem Neuen
Markt in der Wiener Innenstadt. Der 56-jährige Regierungschef
setzt sich und bestellt Tafelspitz.
Am Nebentisch sitzt Victor Adlers Sohn, der 37-jährige Friedrich
Adler. Er hat sich für dieselbe Speise entschieden und nimmt
danach noch eine Portion Zwetschkenkuchen. »Ich habe mir gesagt,
wer weiß, wann ich wieder zum Essen komme«, wird er später
bei der Gerichtsverhandlung erklären. Als Adler mit dem Nachtisch
fertig ist, ruft er den Ober, begleicht seine Rechnung und
erhebt sich. Er geht auf den Grafen Stürgkh zu und feuert aus einem
Revolver drei Schüsse ab. Der Ministerpräsident ist auf der Stelle
tot.
Ein knappes Jahrhundert danach kennt man den Namen Stürgkh
nicht so sehr durch den auf dramatische Weise ums Leben gekommenen
Politiker als durch die Organisatorin des Wiener Opernballs.
Ihr Urgroßvater war der Bruder des ermordeten Ministerpräsidenten.
Desirée Treichl-Stürgkh selbst hat aus einem anderen tragischen
Grund innerhalb ihrer Familie nur wenig von diesem Ereignis
erfahren: »Als ich fünfzehn war, starben meine Eltern knapp hintereinander.
Zuerst mein Vater an einem Herzinfarkt, ein halbes Jahr
später meine Mutter an Krebs. Ich hatte also niemanden, der mir die
Familiengeschichte nahe bringen konnte.«
Der Oberkellner, Herr Grumbach, und mehrere zufällig anwesende
Offiziere halten Friedrich Adler, als die Schüsse gefallen sind, bis
zum Eintreffen der Polizei fest. Danach lässt sich der Attentäter
widerstandslos festnehmen und legt ein Geständnis ab.
Friedrich Adler kam 1879 in Wien als Sohn des Arztes
und Politikers Victor Adler zur Welt, studierte in Zürich Physik
und lehrte dort nach seiner Promotion als Privatdozent. Er heiratete
die Russin Katarina Germanisskaja, mit der er zwei Töchter
und einen Sohn hatte, die zum Zeitpunkt der Tat noch im schulpflichtigen
Alter waren. 1909 bewarb sich Friedrich Adler gleichzeitig
mit Albert Einstein, dem er seit der gemeinsamen Studienzeit
freundschaftlich verbunden war, an der Universität Zürich um
die Stelle eines außerordentlichen Professors für theoretische
Physik, verzichtete dann jedoch zugunsten Einsteins. Als dieser
zwei Jahre später an die Universität Prag wechselte, schlug er
Adler als seinen Nachfolger vor, der zu diesem Zeitpunkt jedoch
bereits politische Ambitionen zeigte. Er kehrte nach Wien zurück
und wurde Parteisekretär der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei,
als der er sich stets vehement gegen den Eintritt Österreichs
in einen Krieg aussprach.
Victor Adler bricht, als er von der Tat seines
Sohnes erfährt, zusammen. Er ist 64 Jahre alt und schwer
herzkrank. Als Spross einer wohlhabenden Prager Kaufmannsfamilie
1852 in Prag geboren, studierte er in Wien Medizin, wo er
sich zunächst den Deutschnationalen um Georg von Schönerer
anschloss, die er jedoch wegen deren wachsendem Antisemitismus
verließ und dem Arbeiterbildungsverein beitrat. 1878 lernte
er im Café Griensteidl seine Frau Emma Braun kennen, die ein
Jahr später den gemeinsamen Sohn Friedrich zur Welt brachte.
1883 eröffnete Victor Adler in der Berggasse 19 eine Arztpraxis,
in der er acht Jahre lang als »Armeleutedoktor« ordinierte, ehe er
sie an Sigmund Freud weitergab. Da er nie Honorare verlangte,
verlor er dadurch sein Vermögen und musste das vom Vater geerbte
Haus verkaufen.
Obwohl er zum Zeitpunkt des Attentats ein schwer kranker Mann
ist, entschließt sich Victor Adler, für seinen Sohn zu kämpfen,
indem er – auch als Zeuge vor Gericht – behauptet, dieser hätte
in plötzlicher Geistesverwirrung gehandelt. Das schien ihm die
einzige Chance, sein Leben zu retten, andernfalls hätte ihn die
sichere Todesstrafe erwartet.
Karl Graf Stürgkh, 1859 in Graz zur Welt gekommen,
gehörte der Gruppierung der Großgrundbesitzer im Reichsrat
an. Der studierte Jurist wurde zunächst als Unterrichtsminister
ins Kabinett geholt und 1911 zum Ministerpräsidenten ernannt.
Stürgkh regierte ab 1914 unter Ausschaltung des Reichsrats
autoritär und ignorierte jegliche Forderung der Opposition nach
Wiedereinberufung des Parlaments. Nach Stürgkhs Tod ernannte
Kaiser Franz Joseph den bisherigen Finanzminister Ernest von
Koerber zu seinem Nachfolger. Es war dies eine seiner letzten
Amtshandlungen – der Kaiser starb vier Wochen nach dem
Attentat, am 21. November 1916, im Alter von 86 Jahren.
Karl Stürgkh hinterließ keine Kinder. Er war nie verheiratet –
laut Familienüberlieferung deshalb, weil er ein derart treuer
Diener seines Herrn gewesen sei, dass eine Frau an seiner Seite
keinen Platz gefunden hätte. Angeblich hatte er sogar in einem
Vorraum des jeweiligen Ministerbüros, in dem er gerade tätig
war, ein Feldbett aufgeschlagen, auf dem er zuweilen zu schlafen
pflegte.
Friedrich Adler muss sich am 18. und 19. Mai 1917 im Wiener
Landesgericht in einem Aufsehen erregenden Mordprozess verant-
worten, dessen stenografische Protokolle vorliegen. Warum er sich
nicht einmal durch den Gedanken an seine Frau, seine Kinder und
seine Eltern von der Tat abhalten ließ, wird Adler von Richter
Ehrenreich gefragt. Im Krieg auf fremde Menschen zu schießen, antwortet
der Angeklagte, sei um nichts weniger verwerflich als ein
Mordanschlag auf den Ministerpräsidenten, den er als gefährlichen
Kriegshetzer sah. Es könne nicht sein, dass geschichtliche Taten nur
von kinderlosen Waisen durchgeführt werden dürfen.
Danach beginnt Friedrich Adler mit der Schilderung des Tathergangs:
»Hinter dem Tisch des Grafen Stürgkh saß eine Dame. Es ist
dort ein Durchgang zwischen Säule und Wand, durch den man
durchschießen könnte, und ich habe mir gesagt, wenn ich danebenschieße,
könnte ich die Dame treffen, und ich sagte mir, das
kann ich nicht tun … Dann ging die Dame weg, um 2 oder
1/2 3 Uhr. Die Uhr des Hotels war gerade vor mir. Von dem Momente
an sagte ich mir: Jetzt muss es geschehen. Doch es kamen immer
wieder Kellner dazwischen, die den Grafen Stürgkh bedienten. Es
bewegten sich immer mehr Leute durch den Saal … Dann kam ein
Moment, wo kein Kellner da war und da gab es mir einen Ruck und
ich bin vorgegangen. Es war eine Überraschung für mich, wie
schnell die Automatik funktioniert hat, so dass die Schüsse gefallen
sind.«
Die Einvernahme Adlers, der mit einem Browning-Revolver auf
Stürgkh geschossen hat, dauert fast sechs Stunden. »In dem rückwärtigen
Saale des Restaurants saßen einige hohe Offiziere«, fährt
Friedrich Adler fort. »Sie haben mich dann am Kragen gewürgt und
mir die Brille heruntergerissen, und über mir war ein Säbel. Da habe
ich gerufen, ich bin Dr. Adler, ich stelle mich dem Gericht …« An
anderer Stelle erklärt er, zu diesem Zeitpunkt bereits mit seinem
Leben abgeschlossen zu haben.
Friedrich Adler ist vor dem Ausnahmegericht nicht bereit, die
Strategie seines Vaters, er hätte in einem Anfall von Geistesverwirrung
gehandelt, zu übernehmen. Er legte sogar Wert darauf, die volle
Verantwortung für die Tat zu übernehmen, weil sie als Wahnsinnstat
für ihn, für das Land und für die internationale Arbeiterbewegung
»nutzlos gewesen wäre«.
Am 19. Mai 1917 spricht der Vizepräsident des Landesgerichts
Wien, Hofrat von Heidt, das Urteil: »Im Namen Seiner Majestät
des Kaisers. Friedrich Adler ist schuldig, gegen Dr. Karl Graf
Stürgkh in der Absicht, ihn zu töten, durch Abgabe von drei
Revolverschüssen auf solche Art gehandelt zu haben, dass daraus
dessen Tod erfolgte. Dr. Friedrich Adler hat hiedurch das Verbre-
chen des Mordes begangen und wird nach § 136 zur Strafe des
Todes verurteilt.«
Doch Friedrich Adler sollte seiner Hinrichtung entgehen, da
kurz vor der Vollstreckung eine Amnestie für politische Gefangene
eingeleitet wurde. Der Attentäter blieb in Haft, aber als Kaiser
Karl in seinen Gesprächen mit dem sozialdemokratischen Parteiführer
die letzte Chance zur Rettung der Monarchie sah, wollte er
ein Zeichen setzen und begnadigte dessen Sohn. Nicht genug
damit, dass Friedrich Adler am 1. November 1918 aus der Strafanstalt
Stein entlassen wurde, stellte ihm der Kaiser für die Fahrt
aus dem Gefängnis sogar seinen privaten Gräf & Stift-Wagen zur
Verfügung.
Den Thron kann er auch dadurch nicht retten. Wenige Tage später
werden Victor Adler und die österreichisch-ungarische Monarchie
gleichzeitig zu Grabe getragen. Adler stirbt am 11. November
1918 und damit just an dem Tag, an dem der Kaiser »auf jeden
Anteil der Staatsgeschäfte verzichtet«. 24 Stunden später wird die
Republik Deutsch-Österreich ausgerufen.
Friedrich Adler fand nach seiner Freilassung wieder in ein bürgerliches
Leben zurück. Da er stets für den Frieden plädiert hatte,
wurde er nach dem Krieg, der zehn Millionen Menschenleben gefordert
hatte, fast wie ein Volksheld gefeiert. Der glühende Pazifist
wurde Abgeordneter zum Nationalrat und Generalsekretär der
Sozialistischen Internationale und emigrierte nach Hitlers Einmarsch
in die USA, wo er die Exilorganisation der österreichischen
Sozialisten leitete.
1946 übersiedelte er mit seiner Familie wieder nach Zürich. Und
nach seinem Tod am 2. Jänner 1960 wurde er im Ehrengrab an der
Seite seines Vaters am Wiener Zentralfriedhof beigesetzt.
Einem anderen Grafen Stürgkh war von der Geschichte eine weitaus
glücklichere Rolle zugewiesen worden als dem ermordeten
Ministerpräsidenten: Georg Christoph Stürgkh hatte knapp zwei
Jahrhunderte vor dem Attentat einen wesentlichen Beitrag zur
Rettung des Habsburgerreichs geleistet. Er war es, der als Hofkanzler
Kaiser Karls VI. mit seiner historischen Unterschrift die Pragmatische
Sanktion gegenzeichnete, durch die Maria Theresia 1740
Regentin von Österreich werden konnte.
Seit den Tagen des Hofkanzlers Georg Christoph Stürgkh war das
steirische Schloss Halbenrain Sitz der Familie Stürgkh. Das Anwesen
stand zum Zeitpunkt der Ermordung Karl Stürgkhs im Oktober
1916 im Eigentum des Ministerpräsidenten und ging, da er keine
direkten Nachkommen hatte, danach in die Hände seines jüngeren
Bruders Heinrich Graf Stürgkh über.
In einen spektakulären Fall war auch ein angeheirateter Onkel des
Ministerpräsidenten verwickelt: Karl Graf Spaur diente als königlich-
bayerischer Gesandter im Vatikan, als die europaweite Revolution
im Herbst 1848 auch den Kirchenstaat erreichte. Als Kardinalstaatssekretär
Pellegrino Rossi am 15. November nach kaum zweimonatiger
Amtszeit an der Treppe des römischen Parlaments von
Rebellen erstochen wurde, bestand auch höchste Gefahr für das
Leben des Papstes. Damit schlug die Stunde des Grafen Spaur, mit
dessen Hilfe Pius IX. nun aus Rom flüchtete. »Mein Mann kam nach
Hause und erzählte mir voller Entsetzen, wie die bewaffnete Masse
den Quirinal* umringte, wie sie die Kanonen gegen das Haupttor
richteten und den Papst seiner Schweizergarde beraubten«, schildert
Therese Gräfin Spaur in dem Buch Papst Pius’ IX. Fahrt nach Gaeta.
Vorerst begab sich Spaurs Komplize, der französische Botschafter de
Harcourt, in den Palast, um mit großer Mühe – an den Aufständischen
vorbei – zum Papst zu gelangen. Er steckte den Heiligen Vater
in das Gewand eines einfachen Priesters, setzte ihm Brillen auf und
lotste ihn durch einen geheimen, seit Jahrzehnten stillgelegten Gang
zu einer Nebenpforte. Dort bestieg der verkleidete Papst einen
Wagen, der ihn zum Grafen Spaur brachte. Dieser erwartete ihn »in
höchster Angst und Aufregung und bis an die Zähne bewaffnet«.
Durch seinen diplomatischen Status konnte Spaur mit seinem
prominenten Fahrgast unkontrolliert die bereits von den Aufstän-
dischen kontrollierte und zur Republik ernannte Stadt Rom verlassen.
Der französische Botschafter war unterdessen allein im Quirinal
geblieben und sprach auffallend laut weiter, sodass die Revolutionäre
vor der Tür der päpstlichen Gemächer dachten, er wäre in ein
Gespräch mit dem Pontifex vertieft. Nach zwei Stunden verließ
der französische Botschafter den Palast und sagte den Wachen, der
Heilige Vater hätte sich nun zur Ruhe begeben.
Der aber war zu dieser Stunde mit dem Grafen Spaur unterwegs
nach Neapel, wo ihn König Ferdinand II. von Sizilien aufnahm und
in Gaeta einquartierte. Knapp zwei Jahre später konnte Pius IX.
nach Rom zurückkehren und sein Pontifikat fortsetzen. Graf Spaur
aber wurde zum Retter des Papstes ernannt und von diesem mit
höchsten Orden versehen.
Trotz der Ermordung des Ministerpräsidenten gingen zwei seiner
Neffen in die Politik: Barthold Stürgkh, ein Sohn seines Bruders
Heinrich,
war in der Ersten Republik steirischer Landeshauptmannstellvertreter
und in der Zweiten Republik Abgeordneter zum Nationalrat
der Österreichischen Volkspartei. Geschichte schrieb auch
Carl Georg Stürgkh – ein weiterer Neffe des Ministerpräsidenten –
der nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten mit Otto von
Habsburg in Paris eine österreichische Exilregierung gründete.
Stürgkh wurde von der Gestapo festgenommen und im Juni 1942
»wegen Vorbereitung zum Hochverrat zum Tod durch das Fallbeil«
verurteilt, später jedoch begnadigt.
Nach Barthold ging Schloss Halbenrain in den Besitz des Maximilian
Stürgkh – dem früh verstorbenen Vater der Opernballorganisatorin
– über.
Auch sie ist dort aufgewachsen, musste das
Anwesen jedoch nach dem Tod ihrer Eltern, »da unser Vater ein
finanzielles Chaos hinterließ«, gemeinsam mit ihren Geschwistern
verlassen. »Das Attentat auf den Ministerpräsidenten«, erinnert sie
sich heute, »war für uns Kinder nur eine Episode, die wir nicht
sehr ernst nahmen. Immer wenn wir am Neuen Markt vorübergingen,
haben wir den Witz gemacht, dass der gute Onkel Karl wenigstens
erst nach dem Mittagessen ermordet wurde.« Desirée Treichl-
Stürgkh und ihre Geschwister wuchsen, nachdem Schloss Halbenrain
an das Land Steiermark verkauft wurde, in einem Wiener
Internat auf.
Mit herzlichen Grüßen